“Vorher hätte ich dafür fünf Wochen benötigt.” Ein Erfahrungsbericht zur Produktdigitalisierung in der Industrieversicherung

Digitalisierung in der Industrieversicherung bedeutet auch Aufbau von digitalen Portfolios. Philipp Thier, Underwriter und Business Analyst, teilt im Gespräch seine Sicht über die Bedeutung von digitalen Produkten für automatisierte Prozesse, welche Entscheidungskriterien helfen, loszulegen und welche Herausforderungen zu überwinden sind à la „das machen wir schon immer so“.

Was bedeutet “Digitalisierung eines Produktes” in der Industrie-und Gewerbeversicherung für dich?

Für mich bedeutet Digitalisierung eines Produktes nicht weniger, als die Versicherungen aus der alten Zeit, sprich aus Papierakten und Excel-Listen heraus in eine neue digitale Welt zu transformieren. In der digitalen Welt existieren Standards, Prozesse werden angebunden, sowie Angebote und Policen automatisch erstellt. Auch Anfragen an den Versicherungsmarkt geschehen automatisch bis hin zu Automatisierung und Dunkelverarbeitung von ganzen Ausschreibungen.

An welcher Stelle könnte sich also Gewohntes ändern?

Ein Ansatz, wäre zu sagen: Überall dort, wo ich immer gleichförmige Prozesse und Produkte habe oder Tätigkeiten, die ein Underwriter zehnmal täglich macht, beginne ich solche Prozesse zu standardisieren und auch zu automatisieren. Das gibt nämlich dem Underwriter die Möglichkeit, sich zum einen mehr auf seine Kunden zu fokussieren. Zum anderen kann er sich auf die wirklich komplexen Prozesse konzentrieren. Prozesse, die so komplex sind, dass ein individuelles Underwriting wichtig ist, beispielsweise durch den Kontakt zum Kunden oder den Kontakt mit den Versicherern oder mit den Maklern. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass das Produkt eher außergewöhnlich ist und es daher ein individuelles Underwriting sinnvoll ist. Alles andere bietet sich an digitalisiert zu werden.

Wo starten Makler oder Industrieversicherer derzeit, wenn es um digitale Produkte und Automatisierung geht?

Das ist unterschiedlich. Wir erleben einige, die zu uns kommen mit einer ganz klaren Zielsetzung und einer ganz klaren Vision. Sie haben sich schon im Voraus Gedanken gemacht, was und wie sie digitalisieren wollen. Wir haben aber auch sehr viele, die zu uns kommen und die einfach als Hausaufgabe mitbekommen haben: Wir müssen jetzt digital, modern, agil werden.

Wer noch keine klare Vorstellung hat, was „digital werden“ konkret heißen kann und bewirken soll, kann nicht starten.

Wer noch keine klare Vorstellung hat, was „digital werden“ konkret heißen kann und bewirken soll, kann nicht starten. Um einen sinnvollen Startpunkt festzulegen analysieren wir die Bestände, und wir sprechen mit den Fachabteilungen. Wo drückt denn der Schuh? Wie sehen die bisher genutzten Systeme aus? Wie sehen die Prozesse aus? Was läuft gut und was läuft schlecht? Dann entwickeln wir gemeinsam: Was möchtet ihr tatsächlich umsetzen? Wo möchtet ihr Prioritäten setzen?

Wenn es zum Beispiel um Produkte geht, kann man sich überlegen, ob man mit einem Basis-Produkt anfangen möchte, was eher einfach ist, weil schon gewisse Standards vorhanden sind. Denkbar ist aber auch mit einem eher komplexeren Produkt zu beginnen, und den Fokus zuerst darauf zu legen, Komplexität zu reduzieren, indem verschiedene Prozessschritte teilweise oder vollumfänglich automatisiert werden.

Wie sieht es mit ganz konkreten Produkten aus: Eignet sich D&O besser, als ein Sachversicherungsprodukt?

Theoretisch kann jedes Produkt digitalisiert werden. Es gibt Produkte,  die einfacher umzusetzen sind, weil sie fachlich und technisch nicht so komplex sind. Nehmen wir beispielsweise eine private Haftpflichtpolice. Die ist nicht sehr komplex, weil sie schon sehr standardisiert ist. Anders sieht es bei einer industriellen Sachpolice mit einer Masterpolice und Auslandsdeckungen für 25 Standorten in 15 verschiedenen Ländern aus, wo man unterschiedliche Prämien mit unterschiedlichen Steuern rechnen muss. Das ist natürlich bedeutend  anspruchsvoller und vielschichtiger. Grundsätzlich gibt es nichts, was nicht umsetzbar wäre. Die wichtigste Frage bleibt: Wo drückt der Schuh am meisten?

Wie könnte ein Makler eine Produktdigitalisierung beginnen?

Ein guter Startpunkt ist, sich zuerst den aktuellen Bestand anzuschauen. Dann werden ein bis drei Produkte herausgepickt, die sich mit Blick Hinblick auf die Komplexität anbieten, digitalisiert zu werden. Für diese wird dann geklärt: Gibt es tatsächlich den Bedarf einer Digitalisierung? Sind die entsprechenden Vertriebskanäle vorhanden?

Jetzt laufen viele Sachen parallel:

  • Zunächst findet eine Abstimmung mit den Kooperationspartnern, sprich mit den Vertriebskanälen, statt
  • Im nächsten Schritt analysiert man die Produkte genauer. Nehmen wir mal an, es handelt sich um ein Financial Institutions Produkt dessen Fragebogen drei Seiten umfasst. Dann wird diskutiert, ob der Fragebogen tatsächlich so lang sein muss oder ob er gekürzt werden kann, sodass  er nur noch vielleicht zehn Frage umfasst, aber genauso gut funktioniert, wie eben vorher das dreiseitige Papier. Da gibt es  viel Potenzial für Konsolidierung.
  • Außerdem kann man überlegen, ob man im gleichen Zug  ein automatisiertes Pricing  anhängt. Das heißt, wir würden zusammen eine Pricing Maschine entwickeln. Und warum diese nicht gleich auch dem Kunden des Maklers zur Verfügung stellen? Oder nur dem Kooperationsmakler?
  • An dieser Stelle kommt eine weitere Überlegung hinzu. Auf welche Plattform soll aufgesetzt werden?
  • Und natürlich können dann auch die verschiedenen Output Dokumente generiert werden: Soll ein Teilprozess so aussehen, dass der Kooperationsmakler oder der Endkunde – wenn er das möchte – sich gleich ein richtiges Angebot erstellen kann? Dann werden diese ganzen Dokumente erstellt.

Viel geschieht im Hintergrund und in enger Abstimmung mit den Fachabteilungen, um das Produkt richtig aufzusetzen.

Welche typischen Hürden bei Digitalisierung von Produkten nimmst du wahr, wenn wir mal am Beispiel eines Maklers bleiben?

Ich sehe zwei große Herausforderungen: zum einen, sind da die Altsysteme, die teilweise so in der Organisation verwoben sind, dass es sehr schwer sein kann, diese abzulösen. Was nicht passieren sollte: Altsystem und neues System parallel laufen lassen. Das generiert doppelt Kosten und erhöht die Komplexität.

Die zweite Herausforderung ist, dass man, wenn man digital arbeiten möchte, digital mit seinen Geschäftspartnern traden möchte, auch die Arbeitsweise und die Denkweise umstellen muss. Wir hören sehr oft: Ja, das machen wir schon immer so. Und das müssen wir deswegen so weitermachen. In solchen Fällen liegt die Herausforderung darin, mit Versicherern und Maklern zu besprechen, was man tatsächlich so weitermachen muss, wie bisher und wo man unter Umständen neue Wege gehen kann.

Triffst du auf Underwriter, die bereit sind Erprobtes loszulassen und sich auf Veränderung einzulassen?

Underwriter sind sehr bedacht, was ihre Arbeit angeht. Im Underwriting steckt sehr viel Historie; dem liegt oft sehr viel, über Jahre und Jahrzehnte angeeignetes Wissen zugrunde. Und natürlich gibt es sehr viele, die bereit sind, neue Wege zu gehen. Es gibt jedoch genauso viele Underwriter, die sich scheuen, das Zepter zu einem gewissen Grad aus der Hand zu geben. Der Einwand: Dann macht man das Underwriting nicht mehr selbst und spricht nicht mehr selbst mit dem Kunden. Stattdessen läuft das Underwriting beziehungsweise das Broking zu einem gewissen Grad gefühlt in einer dunklen Kiste, die man in der täglichen Arbeit nicht beeinflussen kann.

Das stellt eine Veränderung dar, die nicht immer gern angenommen wird.

Wie lange dauert es derzeit, ein einfaches Produkt zu entwickeln und vertriebsfähig zu machen und wie läuft es zukünftig digital und spartenübergreifend?

Da kann ich in erster Linie für die Versicherer sprechen. Die einzelnen Abteilungen, zum Beispiel eine Sachabteilung oder eine Haftpflichtabteilung haben eher ein Augenmerk darauf, dass ihr Geschäft stimmt, dass die Zahlen stimmen. Meiner Erfahrung nach gibt es nur in wenigen Abteilungen einen echten kundenfokussierten und kundenzentrierten Blick.

Wenn ich Produkte digitalisiere, gibt mir das eine neue Chance, Kundenfokussierung einzubringen.

Wenn ich Produkte digitalisiere, gibt mir das eine neue Chance, Kundenfokussierung einzubringen. Ein Beispiel: Ich habe einen Unternehmenskunden, bei dem ich mit Hilfe eines Risikofragebogens die Gesamtheit aller Risiken betrachte. Anhand der Ergebnisse dieses Fragebogens, werden meinem Kunden digitale Produkte zur Verfügung gestellt. Nun kann sich der Kunde selbst Angebote rechnen und sich diese Produkte nach dem tatsächlichen, individuellen Bedarf zusammenstellen.

Eine solche Möglichkeit könnte ich meinem Kunden natürlich auch in der analogen Welt bieten –  jedoch wäre das ein Riesenaufwand. Ich müsste dann zehn Abteilungen irgendwie unter einen Hut bringen, müsste mit zehn Fachexperten sprechen. Digital hingegen, teils automatisiert, bekäme mein Kunde eine Plattform an die Hand, die er so aus der analogen Welt überhaupt gar nicht kennt. Und die in einem Bruchteil der Zeit relevante Angebote rechnen kann.

In meiner eigenen Underwriter-Zeit lief das so ab: Wir hatten teilweise einen Submission Vorlauf, da kam die Submission vom Makler, drei Monate vor Policen Beginn oder vor dem Erneuerungstermin. Dann wird wochenlanges Underwriting gemacht und es werden Referrals geschrieben, wenn es in der Hierarchie nach oben gehen muss, um Freigaben einzuholen. Es soll auch den einen oder anderen Underwriter geben, der eine Tendenz zur Verkomplizierung zeigt.

Wenn ich allerdings Standards geschaffen habe, es ein standardisiertes Pricing gibt und die Referral-Regeln geklärt sind, dann dauert es von einem Fragebogen, über ein Angebot, bis zu einer Police vielleicht zehn Minuten für ein mittelschwer komplexes Produkt. Vorher hätte ich dafür fünf Wochen benötigt.

Geschwindigkeit und Qualität steigen.

Geschwindigkeit und Qualität steigen. Tippfehler, Copy-Paste-fehler, Zahlendreher, Punkte, die eigentlich Kommata sind, gibt es dann auch nicht mehr. Die Daten werden dann nur ein einziges Mal eingegeben und genutzt für das Pricing, die Angebotserstellung, die Policenerstellung und später auch für die Nachträge, und eben für alles, was zu diesem Vertrag dazugehört.

Digitalisierte Produkte und ihre dazugehörigen Prozesse machen also die Basis von Digitalisierung in der Industrieversicherung aus?

Ja. Insbesondere wenn ein digitales Produkt aufgesetzt ist, gibt es jetzt die Möglichkeiten, verschiedenen Branchengruppen gesonderte Lösungen zur Verfügung zu stellen, also spezifische Produktvarianten.

Beispielsweise habe ich ein Standard-Betriebshaftpflichtprodukt und kann das mit relativ wenig Aufwand für eine bestimmte Branchengruppe anpassen. Ich habe dann ein Haftpflichtprodukt, das jetzt speziell für eine Gewerbe- oder eine Industrieart bereitsteht. Noch etwas am Bedingungswerk angepasst, vielleicht noch ein wenig an den Preisen gefeilt und dann bin ich schon ready to go. Die Produktvariante kann ich nun über verschiedene Vertriebskanäle dem Markt zur Verfügung stellen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Philipp is an underwriter and business analyst in the insurance team.