Handlungsempfehlungen zur Beschleunigung von Internationalisierungsprojekten im Multichannel-Handel

Ausländische Märkte bieten zahlreiche Möglichkeiten, um weitere Umsätze zu generieren. Aus diesem Grund ist der Wunsch, das eigene Onlinegeschäft zu internationalisieren, für viele Handelsunternehmen ein wichtiger Baustein der Strategie. Oftmals erfordert der Schritt in die Fremde allerdings mehr als die Übersetzung des Onlineshops und ein paar Anpassungen an das lokale Look & Feel sowie die im Zielland präferierten Bezahlmöglichkeiten. So sind internationale Rollouts insbesondere für Multichannel-Händler mit erheblichen Herausforderungen verbunden.

Die Internationalisierung des Onlinegeschäfts ist oftmals ein komplexes Unterfangen, für das kein über jeden Zweifel erhabenes Patentrezept existiert. Stattdessen sind bei der Wahl des richtigen Vorgehens insbesondere zwei Faktoren zu berücksichtigen:

1. Welche geschäftlichen Strategien verfolgt das Unternehmen im Rahmen der Internationalisierung?

  • Wie stark will das Unternehmen im Zielland mit eigenen Mitarbeitern präsent sein?
  • Sollen bestimmte Aufgaben an externe Dienstleister outgesourct werden?
  • In wie viele und welche Länder soll das Onlinegeschäft in der Zukunft ausgedehnt werden?

2. Welche Voraussetzungen hat das Unternehmen im Zielland bereits geschaffen?

  • Wird das Unternehmen zentralistisch aus der Konzernzentrale geführt oder existieren relativ unabhängige Landesgesellschaften?
  • Ist der Händler im Zielland auch im Stationärgeschäft tätig? Wenn ja, mit welcher bisherigen Strategie?
  • Sind für verschiedene geschäftliche Prozesse im Zielland bereits Systeme im Betrieb, die auch weiterhin genutzt werden sollen?

Diese Fragen sind insbesondere für größere Multichannel-Händler von erheblicher Bedeutung. Denn im Gegensatz zu reinen Onlinehändlern betreten sie im Rahmen der Internationalisierung ihres Onlinegeschäfts meist kein vollständiges Neuland. Oftmals wurden im Zielland bereits eigene stationäre Filialen eröffnet, sodass der Onlinekanal der bereits erfolgten Internationalisierung des Stationärgeschäfts nachfolgt. Eventuell ist sogar schon eine Landesgesellschaft entstanden, die nicht nur die Geschäfte im jeweiligen Markt relativ eigenständig managt und ihre Steuern im Zielland abführt, sondern auch eigene Teams und Prozesse aufgebaut hat. In solchen Fällen sind für verschiedene Anforderungen wie die Finanzbuchhaltung oder die Warenwirtschaft womöglich schon Systeme in Betrieb, die nicht so einfach abgestellt werden können oder sollen. Zudem sind die Systeme, die beispielsweise in Polen verwendet werden, nicht zwangsläufig dieselben, die auch im deutschen Heimatmarkt verwendet werden.

Anstatt mit dem Aufbau des Onlinegeschäfts auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“ beginnen zu können, sind somit oftmals bereits Rahmenbedingungen vorgegeben, die das Unternehmen bei seiner Planung im Blick behalten muss. Denn durch die unterschiedlichen Ausgangssituationen in den einzelnen Ländern entsteht eine Komplexität, die Aufwand, Dauer und Kosten des Internationalisierungsprojekts spürbar erhöhen und zügige Rollouts in vielen verschiedenen Ländern erschweren kann.

Das Ziel muss daher sein, zunächst Komplexität aus dem Internationalisierungsprojekt herauszunehmen, um schnell in den Markt eintreten zu können.

Dennoch haben selbstverständlich auch derartig aufgestellte Multichannel-Händler den Wunsch, ihr Onlinegeschäft schnell und preiswert zu internationalisieren, um mit ihrer Konkurrenz mithalten zu können. Schließlich bestimmen im Wettbewerb häufig Online-Pure-Player, deren Systemlandschaft im Vergleich zu Multichannel-Händlern aufgrund ihrer Konzentration auf einen einzigen Kanal längst nicht so komplex ist, das Tempo. Die Geschwindigkeit internationaler Rollouts zu erhöhen, ist dementsprechend ein zentrales Anliegen vieler Multichannel-Händler. Das Ziel dieser Unternehmen muss daher sein, zunächst Komplexität aus ihrem Internationalisierungsprojekt herauszunehmen, um den eigenen Aufwand möglichst gering zu halten und auf diese Weise schnell in den Markt eintreten zu können.

Meiner Erfahrung nach ergeben sich für große Handelsunternehmen in dieser Situation zwei Möglichkeiten: Zum einen können sie eine eigene Digitalgesellschaft gründen, die neben den das Stationärgeschäft betreuenden Landesgesellschaften besteht und das Onlinegeschäft bewusst neben der bestehenden Systemlandschaft auf der bereits erwähnten „grünen Wiese“ aufbaut. Auf diese Weise muss sich das Onlinegeschäft nicht in bereits existierende Rahmenbedingungen einfügen, sodass sich die Komplexität deutlich reduziert und die Digitalgesellschaft einen schnellen Time-to-Market erzielen kann.

Zum anderen besteht die Möglichkeit, das Onlinegeschäft trotz der damit verbundenen Komplexität in die im Zielland bestehende Systemlandschaft einzubetten. Um einen schnellen Markteintritt zu gewährleisten, müssen allerdings auch in diesem Szenario Wege gefunden werden, Komplexitäten zu verringern. Hierfür bietet es sich an, ein Minimum Viable Product (MVP) zu konzipieren, das sich zunächst auf die wesentlichen Bestandteile beschränkt und somit zahlreiche Komplexitäten, die das Internationalisierungsprojekt bremsen könnten, erst einmal ausschließt. Sobald das MVP erfolgreich im Markt platziert wurde, können iterativ weitere Funktionalitäten ergänzt werden.

Ein flexibles ERP ermöglicht strategische Flexibilität

Doch wie lässt sich die Geschwindigkeit eines Internationalisierungsprojekts erhöhen, wenn in jedem anvisierten Zielland andere Voraussetzungen herrschen und ein Händler diesen unterschiedlichen Rahmenbedingungen auch noch bewusst Rechnung tragen will? Ein wesentlicher Bestandteil derartiger Projekte ist das Enterprise-Resource-Planning-System (ERP). Dessen klassische Aufgabe ist es, alle Unternehmensbereiche abzubilden, um auf diese Weise die Planung und Steuerung des Geschäfts zu erleichtern. Aufgrund dieses umfassenden Anspruchs spiegeln sich zahlreiche der oben beschriebenen Komplexitäten im ERP wider. Auf den ersten Blick könnte es daher sinnvoll erscheinen, ein allumfassendes ERP zu entwerfen, das nicht nur sämtliche Segmente wie CRM, Finanzbuchhaltung oder Warenwirtschaft in sich integriert, sondern auch in allen Ländern eingesetzt wird. Dieses ERP hätte somit den Anspruch, alle bereits in den Zielländern eingesetzten Systeme zu ersetzen und dadurch Komplexitäten zu reduzieren.

Ein solches Vorgehen verkennt jedoch die verschiedenen Bedürfnisse in den einzelnen Ländern. So könnte beispielsweise die Landesgesellschaft in Frankreich bereits eine eigene Logistik aufgebaut haben, die auch für das Onlinegeschäft geeignet ist, während ein solches Fundament in Großbritannien noch vollkommen fehlt. In Frankreich wären somit in diesem Beispiel bereits wertvolle Ansätze geschaffen, die der Händler nutzen sollte, während der vollkommene Neuaufbau einer neuen Logistik in Großbritannien die Internationalisierung ins Vereinigte Königreich deutlich verkomplizieren würde. Schließlich müssten für einen solchen Schritt zunächst einmal Know-how, Personal sowie Lager- und Lieferkapazitäten erarbeitet werden.

Man sollte das ERP als Hub verstehen, das zwar alle Funktionalitäten bereithält, aber auch die Möglichkeit bietet, sowohl bereits genutzte Systeme als auch Drittanbieter anzubinden.

Anstatt ein allumfassendes ERP zu entwickeln, das jeder Landesgesellschaft unabhängig von ihrer Ausgangslage übergestülpt wird, sollte das ERP den Landesgesellschaften möglichst viel Flexibilität bieten, sodass sie es möglichst unkompliziert an ihre Bedürfnisse anpassen können. Aus diesem Grund sollte man das ERP eher als Hub verstehen, das zwar alle essentiellen Funktionalitäten eines ERPs in einzelnen Modulen bereithält, als offenes System aber auch die Möglichkeit bietet, sowohl bereits in den Ländern genutzte Systeme als auch Drittanbieter problemlos anzubinden. Dadurch ermöglicht das flexible ERP dem Händler strategische Flexibilität.

Diese strategische Flexibilität zeigt sich beispielsweise im bereits erwähnten Feld der Logistik. Im beschriebenen Fall könnte der Händler in Frankreich dasselbe ERP nutzen wie in allen anderen Ländern, aber gleichzeitig weiterhin mit seinem etablierten individuellen Logistiksystem arbeiten. Zugleich ergeben sich auch zur Situation in Großbritannien passende Optionen: So könnte die dortige Landesgesellschaft sich etwa dafür entscheiden, mithilfe der im ERP verfügbaren Logistikfunktionalität bereits zu Beginn des Internationalisierungsprojekts eine eigene Logistik aufzubauen und die damit verbundene Komplexität in Kauf nehmen. Alternativ könnte sie aber auch einen externen Logistikdienstleister anbinden, der sich im Zielland bereits auskennt und über die nötigen Ressourcen verfügt. Auf diese Weise kann der Händler die Komplexität seines Internationalisierungsprojekts erheblich reduzieren und einen schnellen Markteintritt forcieren – allerdings mit dem Nachteil, dass ein Teil der Marge an den Dienstleister abgetreten werden muss und auch keine eigenen Erfahrungen gesammelt werden können.

Ein ERP, das ein solches Vorgehen ermöglicht, muss gleich mehrere Anforderungen erfüllen. Zum einen muss es möglich sein, die komplett externalisierte Lagerhaltung des Dienstleisters anzubinden, das Bestandsmanagement, das für die Inventarbewertung und die Bestandsmeldung an den Shop von zentraler Bedeutung ist, aber im ERP zu belassen. Zum anderen muss der Händler in der Lage sein, die Anbindung an den Logistikdienstleister schnell und unkompliziert wieder lösen zu können – sei es, weil der Dienstleister wider Erwarten nicht den Ansprüchen genügt, das Modell in einem weiteren Land mit einem anderen Dienstleister ohne großen Aufwand kopiert werden soll oder der Händler die Logistik letztlich doch selbst übernehmen will.

Fazit

Gerade für große Multichannel-Händler ist die Internationalisierung des Onlinegeschäfts aufgrund unterschiedlicher Systemlandschaften in den einzelnen Ländern häufig eine äußerst komplexe Herausforderung. Um sich dennoch schnell im anvisierten Markt platzieren zu können, ist eine Reduzierung von Aufwänden zumindest in der Anfangsphase eines Internationalisierungsprojekts ratsam. Ein modulares, als Hub verstandenes ERP, das alle benötigten Funktionalitäten in sich bereithält, aber auch die Anbindung von Drittanbietern erlaubt, gibt dem Händler die Flexibilität, den Grad der Komplexität selbst zu bestimmen und an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen.

Doch damit nicht genug: Kommt der Händler nach seinem schnellen Markteintritt zu dem Schluss, dass sein Onlinegeschäft im Zielland eine Zukunft hat, hat er zudem die Möglichkeit, die zunächst von externen Dienstleistern übernommenen Aufgaben nach und nach auch selbst zu übernehmen, um zum Beispiel nachträglich die Marge zu verbessern oder eigene Lerneffekte zu erzielen. In unserem Beispiel kann er sich dem Logistikaufbau somit zu einem selbst gewählten Zeitpunkt widmen, während er mit seinem Onlinegeschäft bereits Geld verdient. Ein derartiges Schritt-für-Schritt-Vorgehen verringert das Risiko des Internationalisierungsprojekts somit erheblich.

Bildquelle: Fotolia – takasu